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„Ich bin eben Pionier in der virtuellen Anthropologie“

Ausgabe #1/2018 • Export

Der Wiener Anthropologe Gerhard Weber hat sich der Virtuellen Anthropologie verschrieben. Als Professor an der Universität Wien fühlt er unseren Vorfahren mittels Mikro-CT auf den Zahn. Warum die Virtuelle Anthropologie Ötzi viel zu verdanken hat und was den Fund von Misliya so sensationell macht, verrät er im Interview.

Sparkassenzeitung: Herr Professor Weber, was kann man sich unter Virtueller Anthropologie vorstellen?

Gerhard Weber: Ich bin gewissermaßen der High-Tech-An ­thropologe, der versucht, die Methoden des 21. Jahrhun ­derts in die Anthropologie hineinzubringen. Wir betreiben biologische Anthropologie, beschäftigen uns mit der Varia ­bilität von Menschen, deren Vorgängern und nahen Ver ­wandten. Wir fragen danach, was uns gemeinsam ist und was nicht. Wir beschäftigen uns auch viel mit Zähnen, weil wir mit dem Mikro-CT seit ungefähr zehn Jahren die Mög ­lichkeit haben, sehr hochauflösende Aufnahmen zu ma ­chen. Es ist bisher praktisch nichts bekannt über die Form im Detail. Wir machen sehr detaillierte Analysen mit neuen Messmethoden, die wir in den letzten 20 Jahren entwickelt haben. Wir bekommen mit sehr vielen Messpunkten – wir nennen sie Landmarks, Kurven und Oberflächen-Land ­marks – die Form detailgenau in den Griff und nehmen nicht nur zwei Breiten- und Län ­genmaße, wie das Anthropologen die letzten 150 Jahre gemacht haben, sondern machen Hunderte Messungen an einem Zahn und vergleichen diese.

Seit wann haben Sie an den Ergebnissen zum Fund Misliya gearbeitet?

Weber: Der Fund selber ist 2011 gemacht worden, 2013 habe ich das Ding hier in meinem Mikro-CT gescannt. Die Archäologen, die die Steinwerkzeuge in den Höhlen gefunden haben, meinten, das sei seltsam, denn es gäbe keine Steinwerkzeuge, die jünger als 160.000 Jahre sind. Und da ist die Höhle eingestürzt. Der Fund mus ­ste sehr alt sein, sah aber aus wie ein moderner Mensch. Nur das kann es eigentlich außerhalb von Afrika zu dieser Zeit nicht geben. Daraufhin haben wir diese ge ­nauen Analysen gemacht, haben fünf verschiedene Dinge angesehen, und alle haben eindeutig ergeben: Das ist ein moderner Mensch!

Wie hat das alles begonnen mit Virtueller Anthropologie?

Weber: Begonnen haben wir damit in den 90er Jahren. Wir haben damals über die Ötzi-Forschung – da war genug Geld da, denn der Ötzi war interessant genug – einen tech ­nologischen Sprung machen können. Und plötzlich hatten wir Mitte der 90er Jahre den Silicon-Graphics-Hochleis ­tungscomputer. Der war so viel schneller als alle anderen PCs, die man kannte. So konnten wir damals anfangen mit 3-D-Daten zu arbeiten. Wir hatten damals diesen techno ­logischen Vorsprung und haben vieles entwickelt. Ich bin eben Pionier in der Virtuellen Anthropologie.

Das heißt, die Virtuelle Anthropologie hat dem Ötzi viel zu verdanken?
Weber: Ja, obwohl für den biologischen Anthropologen der Ötzi natürlich nicht so rasend interessant ist. Mit 5.000 Jahren ist er ein Mensch wie wir, evolutionsbiologisch hat sich da nicht mehr viel getan, aber er hat uns eben irrsinnig viel ermöglicht. Wir haben die Technik dann auf Fossilien angewandt und neue Methoden entwickelt, mit einem Sta ­tistiker aus den USA, Fred Bookstein, mit dem ich auch das Buch geschrieben habe, und mit begnadeten Studenten, die jetzt auch Professorenjobs haben.

Der Aufwand muss enorm gewesen sein, allein die Daten zu erfassen ...

Weber: Ja, und dazu die Methoden zu entwickeln, wie man damit überhaupt rechnen kann. Ich habe 2006 das größte Anthropologie-Projekt, das jemals in Europa stattgefunden hat, initiiert. Wir haben in ganz Europa 28 PhDs und Post Docs ausgebildet – damit diese neue Technologie bekannt und an ­gewandt wird. Damit waren wir den Amerikanern weit voraus, die haben so etwas bis heute teilweise nicht. Das EVAN, das Europe ­an Virtual Anthropolo ­gie Network ist weltweit bekannt. Es wurde vier Jahre von der EU finan ­ziert, lief dann aber aus. Im Anschluss habe ich ei ­nen Verein gegründet, die EVAN Society, dort veranstal ­ten wir weiterhin Schulungen, entwickeln die Software weiter und stellen sie zur Anwendung zur Verfügung.

Ist Anthroploge Ihr Traumberuf?

Weber: Ich muss sagen, ich bin sehr glücklich mit mei ­nem Job, weil er sehr abwechslungsreich ist. Mir hat zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Museum großen Spaß gemacht, bei der wir die Stradivaris genau gescannt haben. Wir haben die ersten Bilder davon produziert und waren damit sofort auf dem Cover von The Strad, das ist sozusagen die Bibel für Geigenmusiker. Die waren fasziniert, wie hochauflösend unsere Aufnahmen waren. Man kann ganz genau erkennen, wie es dem In ­strument geht. Die werden ja alle repariert, man sieht diese Leimschichten exzellent, man sieht den Holzwurmbefall. Wir wenden auf die Stradivaris zum ersten Mal Methoden an, mit denen wir Fossilien analysieren. Noch niemand hat sich so eingehend damit beschäftigt, wie die Form einer Stradivari aussieht und wie sie sich geändert hat im Laufe von Stradivaris Wirken.