Sparkassen Zeitung

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Der Weg in eine neue Dimension

Ausgabe #2/2019 • Die Zukunft des Zahlens

DAS ABTAUCHEN IN DIE INSZENIERTEN REALITÄTEN IST DANK NEUER TECHNOLOGIEN IMMER STÄRKER IM KOMMEN – IN DER FREIZEIT, IM BERUF UND IN DER MEDIZIN.

Das Prinzip ist schnell erklärt: Die Virtual-Reality-Technologie (VR) erzeugt eine virtuelle Umgebung, mit der Menschen mit mobilen Geräten, etwa VR-Brillen oder Headsets für das Handy wie dem Cardboard von Google, interagieren können. Die technische Entwicklung dahinter hat in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung hingelegt. Vom theoretischen Science-Fiction-Thema hat die virtuelle Realität ihren Weg in praktische Anwendungen gefunden. In vielen Branchen gibt es bereits sinnvolle und technisch umsetzbare Anwendungsmöglichkeiten.

INNOVATIONSTREIBER GAMING-INDUSTRIE

„Der Treiber der Technologie ist die Gaming-Industrie. Es wird kontinuierlich daran gearbeitet, das Erlebnis besser und echter zu machen“, weiß Francesca Herr, Locationund Eventmanagerin im VREI-Café, dem ersten Café in Europa, das sich als Zentrum für VR etabliert hat. Mit HTC Vive Pro und Oculus Head-Sets werden den VREI-Gästen High-End-Gaming-Erlebnisse geboten. Dazu kommen noch Racingsimulatoren und ein Flugsimulator. Die Gründer der VR-Lounge im siebenten Wiener Gemeindebezirk haben es sich zur Aufgabe gemacht, die virtuelle Realität erfahrbarer zu machen. Für die meisten Gäste ist VR eine komplett neue Erfahrung und es gilt, eine Schwellenangst zu überwinden. Seit der Gründung im Jahr 2015 haben über 27.000 Menschen den Schritt in die Scheinrealität gewagt. Die Zielgruppe ist zwischen 30 und 35 Jahre alt, dazu kommen noch Studierende, gibt Francesca Herr Auskunft. Der Empfehlung der Hersteller folgend, gibt es eine Altersbeschränkung für Kinder unter 13 Jahren (außer mit schriftlichem Einverständnis der Eltern). Und wer denkt, dass sich ausschließlich Männer in der virtuellen Realität wohl fühlen, der irrt: Der Anteil der weiblichen Gamer liegt im VREI über 30 Prozent.

In der Unterhaltungsindustrie gab es bereits in den 80er Jahren VR-Headsets. Da die Technik jedoch noch lange nicht ausgereift war, verschwand sie für lange Zeit wieder von der Bildfläche. Die technische Entwicklung schleppte sich bis 2013 eher dahin, seither hat man aber einen riesigen Schritt nach vorne gemacht. Dieser Dynamik müssen auch die VREI-Betreiber gerecht werden. Francesca Herr: „Etwa im Zwei-Jahres-Rhythmus kommen Neuerungen auf den Markt. Und es gibt große Unterschiede zwischen den Generationen der Geräte. Auflösung, Kopfhörer und der Komfort verbessern sich rapide.“

RADIKALER WANDEL PROGNOSTIZIERT

Einen radikalen Wandel durch virtuelle Realität in unzähligen Wirtschaftsbereichen orten die ÖkonomInnen der Technischen Universität München (TUM). Eine Studie zeigt, dass sich 7 von 41 untersuchten Branchen auf besonders starke Veränderungen einstellen müssen. Diese sind die verarbeitende Industrie, Fahrzeugwerkstätten, die Kommunikations- und IT-Service-Industrie, der Einzelhandel, die Musikindustrie, die Immobilienwirtschaft und der Bildungssektor. „Virtual und Augmented Reality sind disruptive Technologien: Sie werden in großem Stil und mit großem Tempo bisherige Produkte, Geschäftsmodelle und Produktionsprozesse verdrängen“, sagt Thomas Hutzschenreuter, Professor für Strategic and International Management an der TUM. „Dieser Prozess wird in wenigen Jahren volle Fahrt aufnehmen. Die Unternehmen der von uns ermittelten Branchen müssen deshalb jetzt neue Strategien entwickeln, wenn sie sich am Markt behaupten wollen. Die meisten müssen dazu Partner finden, weil sie nicht selbst über ausreichende Kompetenz in Virtual und Augmented Reality verfügen. Wenn sie das schaffen, haben sie große Chancen ihren Erfolg zu steigern, weil sie mit den Technologien an vielen Stellen die Produktivität erhöhen und Kosten senken können.“

ANWENDUNGEN IN INDUSTRIE UND IMMO-BRANCHE

Siemens Österreich hat sich bereits auf den Wandel durch die Digitalisierung und durch Zukunftstechnologien eingestellt. Die Integration von Robotik, künstlicher Intelligenz, Augmented Reality oder virtueller Realität soll die industrielle Produktion in Österreich stärken und hochqualitative Wissens-Arbeitsplätze schaffen. Bildung ist dabei der Schlüssel zum Erfolg, denn die Jobs von morgen werden stark von der technischen Weiterentwicklung geprägt sein. Darum setzt Siemens bereits bei der Lehrlingsausbildung auf den Einsatz von virtueller Realität. Ob am Schweißsimulator oder in einer der Lerninseln, die Lehrlinge sollen zu „digitalen Pionieren“ ausgebildet werden. Dabei kommt auch die VR-Brille zum Einsatz. Auch später können Trainings und Simulationen in virtueller Umgebung absolviert werden. Virtuelle Realität ist Teil der Industrie 4.0 – bei Anwendungen in der Produktion genauso wie bei Systemen für die KundInnen. Zukünftigen Entwicklungen sieht man bei Siemens gelassen entgegen. „Wir sind sehr gut vorbereitet. Die Zukunft ist digital, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Auch Siemens hat sich gewandelt, wir sind heute eines der zehn größten Softwarehäuser der Welt und treiben diese Digitalisierung mit unseren Lösungen voran. Beim Thema Digitalisierung kommt man nicht an Siemens vorbei“, betont Josef Kinast, Leiter Siemens OÖ.

Auch in der Immobilienindustrie ist die virtuelle Realität angekommen, besonders in der Baubranche kann sie nützlich sein. Objekte können damit in alle Richtungen bearbeitet, verkleinert, vergrößert werden und die Baustelle ist aktiv erlebbar. „Mithilfe von Virtual-Reality- Headsets kann man einen 360-Grad-Rundum-Blick in den lebensnahen virtuellen Gebäuden bekommen. Es ist damit auch möglich, mit Kolleginnen und Kollegen auf der anderen Seite der Welt, die ebenfalls ein VR-Headset tragen oder nur vor einem Monitor sitzen, zu kommunizieren und in Echtzeit über Änderungen oder Anpassungen zu sprechen“, heißt es bei ALLVR, einem Unternehmen, das Projektplanung für Architektur in Virtual Reality anbietet. Wie in einem Video-Spiel können sich ArchitektInnen und BauherrInnen mithilfe von VR-Headsets in 3-D-Modellen bewegen und in eine virtuelle Welt eintauchen. Ein Objekt kann so nicht nur digital geplant, sondern gemeinsam realitätsnah besichtigt werden, bevor man die Steine real aufeinandersetzt. „Strukturelle und projektrelevante Probleme und Fragen können in diesem Prozess schnell identifiziert werden, sodass das Haus dann quasi fehlerfrei gebaut werden kann. Das spart Zeit und Kosten, weil Fehler schon vor Baubeginn anstatt in der eigentlichen Bauphase entdeckt werden können.“

Auch für ImmobilienmaklerInnen kann die Nutzung von VR große Vorteile bringen. InteressentInnen müssen die Immobilie nicht mehr vor Ort besichtigen, sondern können dies jederzeit und von jedem Ort aus tun. Gerade bei noch nicht fertiggestellten Neubauprojekten können die zukünftigen WohnungseigentümerInnen so bei einem virtuellen Gang durch die Wohnung über den genauen Ausbau und die Ausstattung entscheiden. Hier wird in der Regel ein kleiner Aufsatz für das Smartphone verwendet.

EINSATZ IN DER MEDIZIN

Für das heurige Jahr hat es sich die MedUni Wien zum Ziel gesetzt, Virtual Reality zum fixen Bestandteil im Curriculum zu machen. Gleichzeitig sollen wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit dieser begleitenden Maßnahme aufzeigen. Derzeit werden digitale oder technische Hilfsmittel hauptsächlich an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde im dortigen Pädiatrischen Simulationszentrum eingesetzt – interprofessionell werden Notfallsituationen bei Kindern simuliert und trainiert. Es gibt die Möglichkeit, mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille – ähnlich wie beim Gaming – Notfälle lebensecht darzustellen und die einzelnen Aktionen der Handelnden zu analysieren. Dabei können auch mehrere Personen zusammengeschaltet werden. Michael Wagner von der Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der MedUni Wien: „Dabei gibt es unterschiedliche Schwierigkeitsgrade. Außerdem können Stressoren wie laute Geräusche aus der Notaufnahme oder aufgeregte Eltern zugeschaltet werden, um den Druck je nach Erfahrungslevel zu erhöhen und schwierige Situationen zu trainieren, um im Ernstfall für die optimale Patientenversorgung gewappnet zu sein. Durch medizinische Simulation können die Studierenden frühzeitig Erfahrungen in einem geschützten Bereich als Team sammeln, damit der reale Erstfall nicht zum Ernstfall wird.“

Auch in der Psychotherapie findet VR verstärkt Anwendung. Vor allem bei der Behandlung von Phobien können sehr gute Erfolge erzielt werden. Die Psychologen Christian Dingemann und Johannes Lanzinger vom Ärztezentrum Phobius setzen bei der Behandlung von Phobien auf die Verknüpfung von bewährten psychologischen Behandlungsmethoden mit VR. Ob Spinnen, enge Räume, große Höhen oder Flugangst, „wir simulieren die angstauslösenden Situationen und Objekte mithilfe eines Hochleistungs- PCs und einer VR-Brille. Sensoren, die an den Wänden des Behandlungszimmers befestigt sind, erfassen die Bewegungen im Raum“, erklärt Johannes Lanzinger. Der Patient bewegt sich in einer eigens für Phobius entwickelten virtuellen Szene, durch das intensive Eintauchen in die virtuelle Umgebung glaubt das Gehirn, die Situation sei real.

Anna Felnhofer von der Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde der MedUni Wien und Oswald Kothgassner von der Abteilung für Klinische Psychologie an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gehören zu den VR-PionierInnen in Österreich. „In den USA haben ForscherInnen wie Brenda und Mark Wiederhold große Pionierarbeit geleistet und eine eigene Virtual-Reality-Klinik eröffnet. Dort wird der Einsatz von computergenerierten Umgebungen zur psychologischen Behandlung sehr erfolgreich angewandt. Es gibt auch in Deutschland Forschungsgruppen und -kliniken, in Österreich sind es allerdings wenige, welche diese Methoden anwenden oder in Forschungsarbeiten integrieren“, erklärt Kothgassner. Die beiden klinischen PsychologInnen setzen die Computerwelten auch bei der Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) bei Kindern ein sowie bei anderen Diagnosen wie beispielsweise bei Impulskontrollstörungen. Die virtuelle Realität wird so immer mehr zum fixen Bestandteil von Forschung und Therapie.