Sparkassen Zeitung

Economy

Risse im Reich der Mitte

Ausgabe #2/2016 • Sparkassen

RISSE IM REICH DER MITTE

Der Absturz der chinesischen Börsen 2015 hat weltweite Beunruhigung ausgelöst. Dazu kommt die Sorge um das Wachstum, das knapp unter sieben Prozent liegt und weniger rasant vorangeht als in früheren Jahren.

Die Zentralbank in Peking verfügt mit 3.200 Milliarden USDollar zwar über den größten Sicherheitspolster der Welt. Sie muss jedoch gigantische Mittel einsetzen, um ihre Währung zu stützen. Noch vor einem Jahr hatte Peking 4.000 Milliarden auf der hohen Kante. Der Finanzguru George Soros sagte zuletzt, er setze auf einen fallenden yuan: Just in einem Augenblick, in dem China die USA als größte Volkswirtschaft der Erde überholen möchte, beherrschen alarmierende Meldungen aus dem Reich der Mitte die Schlagzeilen.

Tatsächlich hat die Wirtschaft des Landes, das mit einer Einwohnerzahl von 1,4 Milliarden doppelt so viele Menschen beherbergt wie die Europäische Union und die USA zusammen, riesige Probleme. Premierminister Li Keqiang spricht in seinem Rechenschaftsbericht vor dem Volkskongress von wirtschaftlichem Abwärtsdruck. Stahlindustrie, Zementhersteller und Werften leiden unter Überproduktion, das Wachstum im nächsten Fünfjahresplan soll nur mehr zwischen 6,5 und 7 Prozent liegen.

The big chinese picture

Wo die AutofahrerInnen heute in Peking im Stau stecken, waren vor 20 Jahren Fahrräder das normale Fortbewegungsmittel. Für europäische Ohren mag das romantisch klingen, in der Realität war China ein bitterarmes Entwicklungsland. Die Eltern der AutobesitzerInnen von heute – Letztere immer noch eine Minderheit im Land – wuchsen in armseligen Gemeinschaftswohnhäusern auf, in denen Seife Luxus war. Der chinesische Regisseur Wang Xiaoshuai zeigt in seinem Film „Red Amnesia“ einen eifrigen Parteifunktionär, der einer Dorfgemeinschaft nach der Kulturrevolution verspricht, dank der Reformen des ehemaligen faktischen Herrschers Chinas, Deng Xiaopings, werde demnächst jede Familie ein Badezimmer haben. Aber kein Zuhörer weiß, was ein Badezimmer ist. Eine Episode, die der Vergangenheit angehört: Nie sind so viele Menschen in so kurzer Zeit aus der Armut befreit worden wie in China in den letzten drei Jahrzehnten. Die Weltbank rechnet vor, dass von den einst 830 Millionen Menschen in extremer Armut heute nur mehr 150 Millionen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Chinas eigene Statistik spricht von 70 Millionen Armen, die alle am Ende des neuen Fünfjahresplans aus ihrem materiellen Elend befreit sein sollen. Das Land der am Existenzminimum vegetierenden Volkskommunen von früher verfügt heute über ein Netz von Hochgeschwindigkeitszügen, das dem U-Bahn-Netz einer europäischen Hauptstadt ähnlich ist.

Detroit, Peking und ein Umbau

Das rasante Tempo hat in kürzester Zeit zu Problemen geführt, die in Industrienationen um vieles langsamer zu Tage getreten sind: verheerende Umweltverschmutzung und hochgefährliche industrielle Bautätigkeit ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Dazu kommen Fehlplanungen und das Ungleichgewicht zwischen großen Staatsbetrieben im Infrastrukturbereich, die unter politischem Schutz stehen, und einem dynamischen Privatsektor. Beim kritischen Blick des Westens auf China wird leicht vergessen, wie schwer sich auch traditionelle Marktwirtschaften mit Umstrukturierungen tun. Die verlassenen Montagehallen amerikanischer Autohersteller in Detroit und die erkalteten Hochöfen um die einstige belgische Industriehauptstadt Charleroi geben Zeugnis von industriellen Sackgassen.
In China passierte die Einführung des Kapitalismus unter der Führung der Kommunistischen Partei. Die planende Hand der Regierung hat die marktwirtschaftlichen Reformen erfolgreich begleitet. Die zweistelligen Wachstumsraten der letzten Jahrzehnte sind der Beweis. Doch jetzt steht ein schwieriger Umbau bevor. Die Zeiten sind vorbei, in denen China als verlängerte Werkbank der Weltwirtschaft erfolgreich sein konnte. Die Löhne steigen. An die Stelle der Billigproduktion für den Export soll laut nächstem Fünfjahresplan die Herstellung von Konsumgütern von hoher Qualität treten. Die Nachfrage der wachsenden eigenen Mittelklasse soll die Triebkraft sein, nicht mehr der Hunger europäischer und amerikanischer KonsumentInnen nach preisgünstigen Waren „made in China“. Und nach wie vor warten hunderte Millionen auf den großen Sprung in den „gemäßigten mittleren Wohlstand“, den Präsident Xi Jinping verspricht.


Der Umbruch fordert Opfer

Wirtschaftstreibende berichten von der gähnenden Leere in den Fabrikshallen vieler staatlicher Unternehmen. In Stahlbetrieben, bei Zement, in der Bauwirtschaft und in manchen Regionen auch bei Immobilien herrscht Überproduktion. Aber: Die Produktion herunterfahren heißt Arbeitslose schaffen. Dagegen wehren sich die politischen Verantwortlichen mit allen Mitteln. Das kommunistische Einparteiensystem ist ungeeignet, mit den in der modernen chinesischen Gesellschaft auftauchenden vielfältigen Interessensgegensätzen umzugehen.

Die Allmacht des Politbüros mit seinem siebenköpfigen Ständigen Ausschuss hat in der Aufbauphase Widerstände rasch beseitigt. Jetzt wird das zentrale Machtsystem zu einer Fehlerquelle, die ohne Checks and Balances böse Folgen haben kann. Im Umgang mit der urkapitalistischen Institution der Börse haben sich die zentralen Planer bereits die Finger verbrannt. Wer mit der Linie der Führung nicht einverstanden ist, riskiert im chinesischen System, als Parteifeind gebrandmarkt zu werden. In den zwei Jahren, in denen Xi Jinping als Präsident und Parteichef das Kommando führt, hat sich ein wachsender Widerspruch aufgetan: Die chinesische Gesellschaft wird moderner und vielfältiger. Aber die Staatsmacht engt sich ein und wird immer zentralistischer. Die Repression gegen die kleinen Menschenrechtsgruppen nimmt zu. AktivistInnen, die sich außerhalb der Kontrolle der Partei für Arbeiterrechte oder Frauenrechte engagieren, müssen mit schweren Strafen rechnen. Xi Jinping gilt inzwischen als Parteivorsitzender nicht mehr als Primus inter pares, er ist der Kern der Parteiführung.

Diesen Ehrentitel trug zuletzt der große Reformer Deng Xiaoping. Die Unsicherheit über die Lebensfähigkeit des politischen Systems ist ein wichtiger Grund für die Fragezeichen über der finanziellen und wirtschaftlichen Entwicklung. Hinter dem täglichen Chaos auf den Straßen der Großstädte verbirgt sich eine Dynamik, die EuropäerInnen leicht neidisch macht. Fast alle chinesischen GesprächspartnerInnen sind überzeugt, dass es ihnen oder ihren Kindern in Zukunft noch besser gehen wird als bisher. Die Überzeugung sitzt tief, dass die Partei, die den Menschen nach der schlimmen Zeit unter Mao Tsetung die letzten guten Jahrzehnte beschert hat, auch mit den laufenden Schwierigkeiten fertig werden kann. Bei den Eliten nagt dagegen der Zweifel über die Nachhaltigkeit des Systems. Wer kann, schickt die Kinder zum Studium nach Europa oder Amerika. Auch die Tochter des Präsidenten hat ihren Abschluss in Harvard gemacht. Eine Immobilie in London oder Los Angeles oder vielleicht gar ein westlicher Pass für ein Familienmitglied gelten als die ideale Rückversicherung, falls in Peking etwas schief läuft. In Kalifornien boomt das Geschäft mit Geburtskliniken für reiche Chinesinnen, deren Sprössling, da in den USA geboren, die amerikanische Staatsbürgerschaft bekommt.

Die chinesische Wirtschaft hat kurzfristig mehr Reserven, als manche Schlagzeilen vermuten lassen. Aber die Unsicherheit, wie lange das Experiment Kommunismus plus Marktwirtschaft funktionieren kann, nimmt zu.

Über den Autor: Raimund Löw ist Chef des ORF-Korrespondentenbüros in Peking, davor war er unter anderem Korrespondent in Washington und Brüssel.