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Tipping Point Talk: Die Suche nach nachhaltigen Wohlstandsmodellen

Ausgabe #6/2019 • Soziale Verantwortung

SICHER IST, DASS WIR UNSERE ART ZU WIRTSCHAFTEN UND DIE VERTEILUNG DES WOHLSTANDS GLOBAL NEU REGELN MÜSSEN. NUR SO WERDEN WIR DIE GROSSEN ÖKONOMISCHEN WIE AUCH ÖKOLOGISCHEN PROBLEME UNSERER ZEIT LÖSEN. DIE FRAGE IST ABER, WIE?

Das Wiener Odeon Theater war bis zum letzten Platz gefüllt. Doch es war keine bahnbrechende Theater-Inszenierung, sondern die 300 Gäste wohnten einer hochkarätigen Diskussion über die Chancen eines neuen, nachhaltigen Wirtschaftsmodells mit Schwerpunkt Zentral- und Osteuropa bei. Als „Tipping Point Talk 04: AUDACITY“ fügte sich diese Veranstaltung in die Reihe „Tipping Point Talks 2019“ der ERSTE Stiftung ein, die von Verena Ringler kuratiert wird. Boris Marte, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der ERSTE Stiftung, würdigte in seinen Begrüßungsworten den Keynote Speaker Felwine Sarr, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Gaston Berger University in Saint-Louis / Senegal: „Ihre Arbeit hat uns sehr inspiriert. Wenn Sie über Afrika schreiben und sprechen, meinen Sie auch Europa und die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Damit appellieren Sie an uns, dass wir uns Europas kolonialer Vergangenheit stellen, zuhören, lernen und unsere Einstellungen sowie unser Handeln verändern.“

DAS AKTUELLE SYSTEM IST NICHT NACHHALTIG

Für Felwine Sarr sollten wir aus den Potenzialen der Realität mehr Utopien schaffen. „Ökonomisches Handeln ist Teil der Gesellschaft und nicht von dieser losgelöst. Die Kategorien Arbeit, Austausch auf Märkten und Zweck von Wirtschaften sollten wir grundsätzlich überdenken, denn das aktuelle System ist nicht nachhaltig. Der aktuelle globale wirtschaftliche Austausch scheitert daran, die Wohlstandszuwächse fair zu verteilen“, so Sarr. Für ihn sei das eine moralische Grundsatzfrage, es gehe darum, Diversität und andere Produktions- und Wirtschaftsformen gleichberechtigt anzuerkennen. Am Beispiel seiner eigenen Mutter, die sich zuhause um die Familie gekümmert habe und trotz des Fehlens eines klassischen Einkommens – dank des Eingebettetseins in eine Gemeinschaft wie der Familie – sorgloser gelebt habe als viele Menschen mit einem geringfügigen Einkommen, illustrierte Sarr, dass die üblichen Maßstäbe für die Berechnung von materieller Sicherheit viele Formen von Wohlstand gar nicht berücksichtigen. Sarr: „Die Geschichte und Gegenwart Afrikas gibt uns die Gelegenheit neue Formen des Wirtschaftens zu entdecken und durchzusetzen, die wirklich zum Wohlstand von möglichst vielen Menschen beitragen.“

WM-Rektorin Shalini Randeria sieht Phänomene wie
Land Grabbing, Privatisierungen von Gütern des
Gemeinwohls und unfaire globale Handelsbeziehungen
als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung Indiens.

Die anschließende Diskussion wurde von Ivan Vejvoda, Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) moderiert. IWM-Rektorin Shalini Randeria wies gleich zu Beginn auf Parallelen zwischen Sarrs Ausführungen und Mahatma Gandhis Philosophie hin: „Bescheidenheit im Umgang mit Ressourcen, Einschränkungen eigener Konsumbedürfnisse und Wirtschaften in dezentralen Communitys – all das wurde im modernen Indien eben nicht verwirklicht.“ Die Anthropologin betonte auch, dass Phänomene wie Land Grabbing, Privatisierungen von Gütern des Gemeinwohls und unfaire globale Handelsbeziehungen, das rechtliche Regelwerk für geistiges Eigentum und Agrarsubventionen in Milliardenhöhe eine Weiterentwicklung zu einem faireren Wirtschaftssystem verhindern würden.

GERECHTIGKEIT DURCH NACHHALTIGE ENTWICKLUNG FÖRDERN

Die Leiterin des Instituts für Ökologische Ökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien, Sigrid Stagl, betonte: „Die Wirtschaftswissenschaft kann viel von den Natur- und Sozialwissenschaften lernen. Das gegenwärtige Wachstumsparadigma mit dem BIP im Zentrum sollte zu einem Konzept von menschlicher Entwicklung innerhalb unserer biologischen und physischen Grenzen weiterentwickelt werden.“ Stagl verwies darauf, dass uns für die notwendige drastische Reduktion der CO2-Emissionen nicht mehr viel Zeit bliebe, dafür brauche es einen „sozio-ökologischen New Deal“. Christoph Badelt, Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ortete innerhalb der Gesellschaft eine Trennlinie zwischen denen, die bestenfalls die Notwendigkeit von Veränderung ahnen, und jenen, die auch bereit sind entsprechend zu handeln. „Wir sollten ein politisches System anstreben, das soziale und ökologische Ziele stärker in Balance mit wirtschaftlichen Wachstumszielen bringt. Dazu brauchen wir in den nächsten Generationen viel mehr Bereitschaft zum Denken in Utopien.“ Der Ökonom verwies in diesem Zusammenhang auch auf die „Nachhaltigen Entwicklungsziele“ und auf Initiativen für mehr Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, insbesondere im Bereich der unbezahlten Arbeit.

BILDUNG ALS GRUNDLAGE FÜR SELBSTBESTIMMUNG

Felwine Sarr, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der
Gaston Berger University in Saint Louis, sieht in der
Geschichte und Gegenwart Afrikas die Chance neue Formen
des Wirtschaftens zu entdecken und durchzusetzen,
die wirklich zum Wohlstand von  möglichst vielen Menschen beitragen.

Der CEO der Banca Comercială Română (BCR), Sergiu Manea, betonte, dass der ungleiche Zugang zu Bildung die größte Ungerechtigkeit sei, die in heutigen Gesellschaften existiere: „Erst durch Bildung erhalten Menschen die Möglichkeit freie und informierte Entscheidungen zu treffen. Mittel- und langfristig ist das die Antwort für alle Gesellschaften, die zu mehr Wohlstand und echter Inklusion führt.“ Die aktuellen negativen Zinsen würden jedenfalls für viele Menschen falsche Anreize zum raschen Konsumieren setzen, was nicht nachhaltig sein könne. Auch Nikolaus Griller, Vizepräsident der Jungen Industrie und Vorsitzender des Gesellschafterausschusses der Gebauer & Griller Kabelwerke, strich die besondere Rolle von Bildung hervor. Griller ist für zwei Jahre als Fellow der Bildungsinitiative Teach For Austria tätig und unterrichtet als vollwertige Lehrkraft an einer Wiener Mittelschule: „Auch bei uns in Österreich gibt es Ungleichheit im Bildungssystem. Kinder aus einem benachteiligten Umfeld haben einen Startnachteil – hier haben wir Aufholbedarf. Es gibt oft ausreichend Wissen und Willen, aber es fehlen Mut und Kraft für entschlossene Reformschritte. Vor allem das Schulsystem muss sich öffnen, wir verlieren sonst wirtschaftliches und soziales Potenzial.“

Die Tipping Point Talks sind der Beitrag der ERSTE Stiftung zum Jubiläum „200 Jahre Sparkassen“ im Jahr 2019. Im März sprach der Politikwissenschafter Francis Fukuyama zu „IDENTITY“, zum Europatag am 9. Mai richtete der Historiker Timothy Snyder am Judenplatz seine „Rede an Europa“. Am 19. September sprach Marietje Schaake über die „Macht der Gesetze oder Gesetze der Macht?“ im digitalen Raum. Als Kuratorin der Reihe fungiert Verena Ringler (European Commons). Die Aufzeichnungen aller Veranstaltungen sind dauerhaft via www.erstestiftung.org abrufbar.