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Werte

„Werte können sich auch im Kleinen sehr schnell ändern“

Ausgabe #5 November/2021 • WERTEWANDEL

PHILOSOPH KONRAD PAUL LIESSMANN IM INTERVIEW ÜBER DIE FUNKTION VON WERTEN, WARUM SIE SICH ÄNDERN UND WIESO SPAREN ZU EINEM „UNWERT“ GEWORDEN IST.

Gibt es Werte, die aktuell für die meisten Menschen Bedeutung haben?

Konrad Paul Liessmann: Es gibt einige wenige Grundwerte. Wenn wir uns an die 18 Monate der Pandemie zurückerinnern, herrschte vor allem am Anfang bei den meisten Menschen Konsens, dass der Schutz des Lebens ein hoher Wert ist und man Menschen nicht wahllos sterben lassen kann, nur um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Finden Wertewandel im Kleinen oder eher in großen Wellen statt?

Liessmann: Beides. Der Wert in einem ethischen Sinn existiert erst seit dem 19. Jahrhundert. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Ökonomie und bezeichnete die Wertschätzung, die man einem Gegenstand gegenüber zum Ausdruck brachte, durch das, was man bereit war, für ihn zu zahlen. Werte können sich auch im Kleinen sehr schnell ändern. Dadurch unterscheiden sie sich von religiösen Geboten. Diese kommen für den Gläubigen von Gott und gelten deshalb immer und ewig. Ein Gott, der dem Menschen ein Gebot gegeben hat, wird nicht nach ein paar Tausend Jahren menschlicher Zeitrechnung sagen, dass das ein Blödsinn war und sein Gebot ändern.

Wieso ändern sich Werte beim Individuum?

Liessmann: Etwa dadurch, dass man älter wird. Denn in der Jugend schätzt man andere Dinge wert als 20 oder 30 Jahre später. Alleine weil sich die Lebensbedingungen ändern. Wenn ich studiere und Karriere machen will, sind andere Dinge für mich wichtig als später, wenn ich eine Familie habe. Dann kommen neue Werte hinzu, an die ich als Zwanzigjähriger gar nicht gedacht habe. Werte können sich auch ändern, wenn man in ein anderes Land zieht und mit anderen Kulturen zu tun hat. Viele Studentinnen und Studenten, die ein Auslandssemester machen, kommen mit anderen Denk- und Lebensweisen in Berührung – dann können sich auch ihre Werte ändern. Werte ändern sich auch durch Erfahrungen. Etwa, wenn uns etwas, das uns wichtig war, enttäuscht hat.

Und die großen, gesellschaftlichen Werte?

Liessmann: Wir werten als Gesellschaft ständig Dinge auf und ab. Denken wir zum Beispiel an Diversität, die momentan als Wert hoch im Kurs steht. Ich kenne kein Unternehmen, das in seiner Personalpolitik nicht darauf hinweist, wie sehr Diversität hochgehalten wird. Noch vor zehn Jahren war sie kein Thema. Dass ein Wert sich gesamtgesellschaftlich bemerkbar macht, können Sie daran beobachten, dass er plötzlich in Bereichen auftaucht, wo er vielleicht gar nichts zu suchen hat. Nachhaltigkeit zum Beispiel, ein Dauerbrenner, der immer wieder seine Konjunkturen hat, ist ein Begriff, der im 18. Jahrhundert in der Forstwirtschaft entwickelt wurde – und bedeutet hat, dass der Wald so behandelt wird, dass der Baumbestand nachhaltig gewahrt bleibt. Kaum wird Nachhaltigkeit zu einem gesamtgesellschaftlichen Wert, wird alles nachhaltig: Unternehmen investieren nachhaltig, Bildung muss nachhaltig sein, Kultur wird nachhaltig und sogar Flugreisen werden als nachhaltig angepriesen.

Auch die Familie als Wert hat sich verändert …

Liessmann: Sie war einmal ein ganz hoher Wert, reduziert allerdings auf das Bild der klassischen Kleinfamilie. Während der sexuellen Revolution war sie überhaupt kein Wert mehr, sondern der Ausdruck des Spießertums, des bornierten kleinbürgerlichen Zusammenlebens, eingeschnürt im Gefängnis der heterosexuellen Zweierbeziehung. Und heute ist sie wieder ein ganz großer Wert, aber unter anderen Gesichtspunkten: Ehe für alle.

Inwiefern hat im ökonomischen Bereich ein Wertewandel stattgefunden?

Liessmann: Als ich ein Kind war, das ist ein halbes Jahrhundert her, war es klar, dass es einen zentralen Wert gab: Sparen. Damals gab es den Weltspartag und Sparbücher. Wenn man von jemandem sagte, dass er sparsam sei, war das eine Tugend. „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ – mit diesem Spruch sind wir großgeworden. Doch wer heute noch in diesem Sinne sparsam ist, gilt ökonomisch gesehen als Idiot, der nicht in produktive Anlageformen investiert. Aus einem zentralen Wert wurde so binnen weniger Jahrzehnte ein Unwert.

Welche Werte werden in der Zukunft eine relevante Rolle spielen?

Liessmann: Ich bin kein Prophet, aber eines kann man sagen: Wir dürfen nicht dem Irrtum unterliegen, zu denken, dass die Werte, an die wir jetzt gerade glauben – wie Diversität, Menschenrechte, Europa, Klimaschutz oder Innovationskraft – ewig sind. Auch sie werden ab-, um- und aufgewertet werden. Denn Dinge, aber auch Lebensformen werden für den Menschen immer dann mehr wert, wenn es wenig davon gibt. Fliegen zum Beispiel war in den letzten 20 Jahren nichts mehr wert. Wenn ein Ticket nach Barcelona 9,99 Euro kostet, hat es keinen Wert mehr, es ist eine Selbstverständlichkeit. Das gerät ins Wanken, weil wir unsere Einstellung zum Fliegen dramatisch geändert haben und es auch mit der CO2-Bepreisung teurer werden wird. Aktuell ist es eher ein Unwert, wer viel fliegt, sollte sich schämen. Das Paradoxe: In dem Moment, in dem sich nicht mehr alle das Fliegen werden leisten können, könnte es erneut ein Privileg und somit wieder ein hoher Wert werden.

Konrad Paul Liessmann
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„WIR WERTEN ALS GESELLSCHAFT STÄNDIG DINGE AUF UND AB.
DENKEN WIR ZUM BEISPIEL AN DIVERSITÄT, DIE MOMENTAN ALS WERT HOCH IM KURS STEHT.“

Konrad Paul Liessmann,
Philosoph und Kulturpublizist

Foto: Heribert Corn
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Gibt es noch andere Werte, die sich zukünftig ändern werden?

Liessmann: Mobilität ist ein Wert, der erst im Lauf des 19. Jahrhunderts aufgekommen ist. Und es steht nirgends geschrieben, dass uns dieser Wert ewig bleiben wird. Ich kann noch nicht abschätzen, ob wir unseren Mobilitätskult weiter pflegen werden – oder ob sich eine neue Art der Sesshaftigkeit als neuer Wert etablieren wird. In dem Sinne, dass es nicht mehr notwendig ist, weit in die Arbeit, zum Kindergarten oder den Supermarkt zu fahren, weil man sich eine Umgebung leisten kann, in der man alles fußläufig oder mit dem Rad erreicht. Viele Menschen haben in der Pandemie das Homeoffice schätzen gelernt. Hier könnten die Verbindungen von Wohnen und Arbeiten, die vorindustrielle Werte waren, wieder neues Ansehen und alternative Lebens- und Wohnmodelle eine neue Wertigkeit bekommen.

Foto: Heribert Corn