Sparkassen Zeitung

Economy

Armut hat viele Facetten

Ausgabe #6/2016 • Obdach

Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich über Armut in Österreich, Kinder als Armutsopfer und Weihnachten im Seniorenheim.

Sparkassenzeitung: Österreich ist ein reiches Land. Wie arm ist Österreich aber wirklich?
Michael Landau: Nach der offi ziellen Statistik der Republik sind in Österreich 1,18 Millionen Menschen armutsgefährdet. Das bedeutet, dass schon eine kleine Unebenheit im Leben sie aus der Bahn werfen kann. 400.000 Menschen sind akut arm: Sie können ihre Wohnung nicht angemessen warm halten, müssen beim Essen sparen oder können allfällige Reparaturen von Herd oder Kühlschrank nicht bezahlen. In Österreich erfrieren und verhungern Menschen nicht, wenn sie von Armut betroff en sind – aber gehungert und gefroren wird auch bei uns.

Wie kann es sein, dass Menschen aus dem doch sehr guten Sozialsystem rausfallen?
Landau: Die Beschäft igungslage ist ein wesentlicher Faktor, denn unser Sozialsystem hängt an Arbeitsleistung und Arbeitslohn. Wenn es daher bei der Beschäft igung keine Sicherheit und Kontinuität gibt, dann überträgt sich das auf die soziale Absicherung. Das zweite sind Schicksalsschläge – ein Unfall, Krankheit oder in vielen Fällen auch psychische Krisen. Auch Trennung oder Scheidung können zu dramatischen fi nanziellen Engpässen führen. Der Sozialstaat wirkt, aber er ist nicht selbstverständlich.

Würde eine Absenkung der Mindestsicherung das Problem weiter verschärfen?
Landau: Rund zwei Drittel der Menschen, die Mindestsicherung beziehen, sind sogenannte „Aufstocker“, das heißt, dass ihr Lohn oder ihre Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung zu gering ist, um das tägliche Leben zu bestreiten. Viele Menschen stehen unter enormem Druck. Gesundheitliche Probleme, Verlust an Selbstwert und Perspektivenlosigkeit sind die Folge. Eine Kürzung der Mindestsicherung würde eine weitere Verschärfung der Situation bedeuten. Also auch: mehr sichtbare Armut und Verzweifl ung, nicht zuletzt bei Kindern. Steigende Zahlen bei der Mindestsicherung weisen also auf davor liegende Probleme hin. Bei diesen gilt es anzusetzen.

Wer ist in Österreich am schwersten von Armut betroffen?
Landau: Langzeitarbeitslose Menschen, Alleinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern, aber auch Haushalte mit Migrationshintergrund. Und was sich in allen Statistiken zeigt: Je geringer der Bildungsabschluss, desto höher die Armutsgefährdung. Daher brauchen wir ein Bildungssystem, das in der Lage ist, Kindern aus armutsgefährdeten Familien bessere Chancen zu geben. Wir dürfen kein Kind zurücklassen. Die Caritas-Lerncafés sind da zum Beispiel ein konkreter Beitrag.

Wie kommt es eigentlich dazu?
Landau: Armut hat viele Facetten, und nicht alle lassen sich beeinfl ussen: Niemand kann entscheiden, in welche Familie er oder sie hineingeboren wird. Und wenn es nur 50.000 offene Stellen gibt, aber knapp 400.000 arbeitslose Menschen, dann greift es zu kurz, das Problem in der mangelnden Arbeitsbereitschaft zu verorten. Wir erleben das in unseren Beschäft igungsprojekten: Weit mehr Menschen, als wir beschäft igen können, wollen arbeiten. Mehr als 58.200 Menschen pro Jahr unterstützt die Caritas direkt oder indirekt. Das zeigt, wie groß unser Problem wirklich ist.

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„ARMUT HAT VIELE FACETTEN,
UND NICHT ALLE LASSEN SICH
BEEINFLUSSEN."

Michael Landau, Caritas-Präsident

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Wie hilft die Caritas diesen Menschen?
Landau: Österreichweit etwa in 36 Sozialberatungsstellen, in Familienzentren und Einrichtungen für wohnungslose Menschen, wenn ich an die Mutter-Kind-Häuser oder betreute Wohngruppen der Caritas denke. Für über 1.400 langzeitarbeitslose Menschen eröff nen die Beschäft igungsangebote der Caritas Chancen. Denn es geht immer um Hilfe zur Selbsthilfe.

Was kann man selbst tun?
Landau: Armut ist kein Th ema, über das gerne gesprochen oder im Freundeskreis diskutiert wird. Als Caritas wollen wir daran erinnern, dass sich hinter Armutszahlen Menschen und ihre Schicksale verbergen. Und dass es wichtig ist, aufeinander zuzugehen und Menschen in Not nicht aus dem Blick zu verlieren. Natürlich gibt es in der Caritas auch viele Möglichkeiten für freiwilliges Engagement. Der Canisibus oder die Lerncafés sind Beispiele dafür. Neben der Zeitspende ist aber auch die Geldspende eine wertvolle Unterstützung. Wir tragen als Menschen Verantwortung für uns selbst, aber eben auch für einander. Gerade in Zeiten, wo der Weg steiler geworden ist, werden wir weiterhin auf ein funktionierendes Gemeinwesen angewiesen sein.

Heute wird ja viel über Christentum und christliche Werte diskutiert, oft auch in Opposition zum Islam. Äußert sich das auch im Handeln, oder ist das nur politische Polemik?
Landau: Österreich hat einen guten Grundwasserspiegel der Solidarität. Die christliche Nächstenliebe ist präsent im Tun, wenn ich an die vielen Pfarren denke, aber auch an engagierte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die etwa in der Flüchtlingsfrage aktiv mitgeholfen haben und sich auch jetzt bei der so wichtigen Integration der Menschen, zum Beispiel bei Sprachkursen, engagieren. Caritas heißt Nächstenliebe ohne Wenn und Aber. Wer eine Not gegen die andere ausspielt, bringt Österreich keinen Millimeter weiter. Aber es zeigt sich auch, dass an den Rändern unserer Gesellschaft das soziale Netz rissiger und dünner geworden ist. Es stimmt mich nachdenklich, dass die Zahl jener Menschen steigt, die zum Essen in unsere Einrichtungen kommen.

Was macht Ihnen persönlich am meisten Freude am Weihnachtsfest?
Landau: Ich feiere jedes Jahr mit den Damen und Herren in dem Caritas Seniorenhaus, in dem ich seit 20 Jahren Seelsorger bin. Die brennenden Kerzen auf dem geschmückten Altar, die dunkle Kapelle, das gemeinsame Lied ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘, die Begegnung danach mit den Mitarbeiterinnen der Gruft , und das Wissen, dass ganz viele Menschen, die bei uns Hilfe suchen, eine große Freude haben, weil sie an diesem Abend nicht alleine sein müssen.

Was ist Ihr Wunsch ans Christkind 2016?
Landau: Ich wünsche mir mehr Frieden auf der Welt, mehr globale Gerechtigkeit. Was wir sehen, ist, dass die Zukunft sangst der Österreicherinnen und Österreicher gestiegen ist. Ich meine, wir müssen die Herausforderung annehmen und ein Gegengewicht zu Angst, Hass und Egoismus schaff en. Und unser Gegengewicht heißt Zusammenhalt. Gemeinsam können wir etwas verändern. Und es kommt dabei auf jede Einzelne und jeden Einzelnen an.

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